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Ohne Vision, keine Zukunft

Eine verbreitete Furcht aus Kindertagen ist es, seine Eltern zu verlieren. An diesem Gefühl des Verlorenseins bedient sich das Tanzstück „Labyrinth“ des choreografischen Duos Miller de Nobili, das am 29.03 im Festspielhaus Hellerau seine Premiere feierte.  

Die Lebenswege der sechs zutiefst verschiedenen Charaktere überschneiden sich in dieser surrealen Inszenierung zu einer Traumwelt. Fragmentarische Szenen finden mit scheinbar unzusammenhängenden Texten gleichzeitig auf der Bühne statt. Der Effekt: pure Verwirrung.  

Ebenso absurd ist die Breakdance-Choreografie. Fabienne Deesker und Alessandro Ottaviani winden sich umeinander, beschnuppern sich, bepicken sich wie Tauben und stoßen sich weg. Die animalische Suche nach Nähe steht im Kontrast mit höflich distanzierten Phrasen. In der Kentucky-Fried-Dreams-Filiale antwortet man der Gruppe: „Zuneigung könnt ihr euch nicht leisten.“  

Die Entfremdung, unter der die Charaktere leiden, ist erdrückend. Mithilfe des harten Scheinwerferlichts lässt Geohwan Ju die Tänzer*innen einsam in der Dunkelheit zurück, während die Musik von Gabor Halasz bedrohlich anschwillt. Das Bühnenbild von Sabine Mäder ist ebenso trostlos. Der Boden wird ihnen wortwörtlich unter den Füßen weggezogen und die drei beweglichen Spiegel verstärken die Verzerrung der zuckenden Tanzbewegungen.  

Der Traum ist die einzige Hoffnung. Gemeinsam stellt die Gruppe all ihre unerfüllten Wünsche nach. Je absurder die Fantasien, desto lauter muss das Publikum lachen. Bis der Wunsch krankhaft wird: sich aufzuhängen.  

Jedoch ist es die Realität, die krank macht. Rassismen, Sexismen und Queer-Feindlichkeit scheinen die Charaktere tagtäglich zu verfolgen. Ungeschönt werfen sie sich allzu bekannte Beleidigungen an den Kopf. Der Charakter von Nam Tran Xuan möchte einfach nur gehört werden, während Niklas Capel von Weihnachtsessen berichtet, die zu Familienprozessen werden. Provokant wird das Publikum mit feministischen Problemfragen konfrontiert: Ist die Influencerin von Natalia Vagena wirklich emanzipiert, wenn sie ihren Arsch in die Kamera hält? 

Endlose Fragen. Dunkle Aussichten. Was wird aus unserer Zukunft? Was, wenn die AfD Regierungspartei wird? 

Die Gefahr ist allgegenwärtig. Der von Alessandro Ottaviani verkörpert Anzugträger schwingt Reden, die keinen Unterschied zwischen den Worten Martin Luther Kings, Mandelas, Trumps und Hitlers machen. Bis er zum Peiniger Philipp Lehmanns wird: Liegestütze. Weiter. Weiter. Dann stellt er sich auf seinen Rücken. Der Befehl: hoch. Die Luft ist zum Zerreißen gespannt. Eine Frau aus dem Publikum ruft rein: „Es reicht! Wir haben’s verstanden.“ 

Trotz Charakterentwicklungen, die durch Kostümwechsel verdeutlicht werden, bleibt die Frage offen: Reicht es, um aus dem Labyrinth zu entkommen? Der Tanz der Künstler*innen war kreisend. Ihnen war es unmöglich aus der Wiederholung der Geschichte auszubrechen. Andererseits schickt uns der Endmonolog von Niklas Capel mit einem Appell aus dem Theatersaal: Wir alle sind Geschichten, die nur darauf warten, erzählt zu werden.  

Eine Rezension von Moon Ehrhardt