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Heute in zwanzig Jahren – Ibrahim Amirs Komödie Homohalal im Kleinen Haus

Dresden im Jahr 2037: In der tolerantesten Stadt Europas herrscht ein interkulturelles Miteinander – Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen leben friedlich zusammen, Rassisten versinken in Depressionen und Lutz Bachmann trifft sich wöchentlich im Hammām mit seinen muslimischen Freunden. Das Stück Homohalal  baut auf der Begegnung von fünf Freunden auf, die sich aufgrund eines unerwarteten Ereignisses wiedertreffen. Gemeinsam werfen sie einen Blick zurück aus der Zukunft auf ihren Weg der letzten 20 Jahre – auf Integration mit „Mensch ärgere Dich nicht“ und Nachhilfe im Kapitalismus mithilfe von Monopoly. Trotz der überspitzten Darstellung bleibt die Eindringlichkeit des Inhaltes und der Appell an das Publikum nicht aus. Etwa zur Hälfte des Stückes wird aus Humor und Sarkasmus Wut und Ernst. Eine Wendung, die Gänsehaut hinterlässt.

Mit seiner bissigen Komödie greift der syrisch-kurdische Autor Ibrahim Amir Klischees und Vorurteile auf und hält der Gesellschaft einen Spiegel vors Gesicht: ironisch, durchdacht und unbequem.
Dass das Staatsschauspiel ein Stück mit dieser Problematik in eine so polarisierte Stadt wie Dresden holt ist gewagt, aber notwendig. Tatsächlich sollte Homohalal ursprünglich am Volkstheater in Wien uraufgeführt werden. Bedenken bezüglich politischer Korrektheit ließen die Aufführung des Stückes kurz vor der Premiere platzen. Zwei Jahre lang hat Ibrahim Amir den Inhalt gemeinsam mit Geflüchteten und Aktivisten erarbeitet. Fast ein weiteres Jahr arbeitete der Autor anschließend mit dem Staatsschauspiel Dresden zusammen, um das Stück in seiner jetzigen Form auf die Bühne zu bringen.

Homohalal beeindruckt in seinen knapp 90 Minuten vor allem mit der Reflektiertheit, mit der an komplexe Themen wie Familie und Sexualität  aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen herangegangen wird.  Doch nicht nur inhaltlich stimmt es auf der Bühne: Mit viel Charme leitet Rouni Mustafa, der bereits in Morgenland und Romeo und Julia zu sehen war, das Stück ein und erzählt als Geflüchteter seine persönliche Geschichte. Seine Authentizität gibt dem Zuschauer das Gefühl, das es in Ordnung ist, sich mit ihm auf diese Reise durch das Stück zu begeben und trotz allen Ernstes auch mal darüber zu lachen zu können. Ebenfalls sehr gelungen sind die Darstellungen von Holger Bülow als Syrer Abdul mit sächsischem Dialekt und einer wie immer wunderbaren Anna-Katharina Muck als überengagierte Integrationshelferin.

Homohalal lässt den Zuschauer mit dem Wunsch zurück, dass ein kleines Stück der anfänglichen Utopie doch bleiben könnte. Dass man in zwanzig Jahren mit einem Kopfschütteln auf die Angst vor Fremden zurückschaut und die Toleranz gegenüber Religionen und fremden Kulturen in Deutschland genauso selbstverständlich ist, wie der Anblick von Socken in Sandalen im Sommer.

Die letzte Chance, das Stück zu sehen, gibt es am Sonntag, den 11.06.  Für beide Veranstaltungen um 16:00 und 20:00 Uhr gibt es noch Karten.

Text: Nicole Cruschwitz

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Allgemein Tanz und Theater

Extinction of a Minor Species – Dresden Frankfurt Dance Company in Hellerau

Die Dresden Frankfurt Dance Company ist wieder zu Gast. Nach der Uraufführung in Frankfurt läuft das Stück „Extinction of a Minor Species“ nun im Europäischen Haus der Künste – Dresden Hellerau. Noch bis zum 5. Juni gibt es Aufführungen zu sehen. Wir waren da und erzählen von unseren Eindrücken (4 Minuten)

Der Hörbeitrag mit Pressefotos von Dominik Mentzos (DFDC):

Text und Produktion: Meike Krauß

Fotos: Dominik Mentzos (Press Photos DFDC)

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Allgemein Theater

Gastbeitrag Theaternetz: Ein Gespräch mit Andreas Posthoff

Theaternetz ist ein junger Kulturjournalismus aus Stuttgart. Während wir die breite Kulturlandschaft in Dresden abbilden konzentriert sich Theaternetz ganz auf die Theaterlandschaft in und um Stuttgart. Auch unsere Artikel zum Thema Theater wurden bereits dort veröffentlicht. In ihrer Kategorie Coffe & Cigarettes treffen die Autor*innen von Theaternetz die Menschen hinter der Aufführung. Dieses Mal im Gespräch mit Andreas Posthoff.

Ein smarter Herr der alten Garde

Ihm schmeckt die Sprachästhetik Klabunds ebenso gut wie in Honig marinierte Geflügelleber. Seiner Ansicht nach ist die Menschlichkeit ein unantastbares Gut, bei weitem höher als die Selbstdarstellung. Fernab der Bühne huldigt er dem Müßiggang. Die Muse des Familienmenschen ist der Mensch in aller seiner Facetten.

Der im Jahr 1961 geborene Andreas Posthoff stammt ursprünglich aus Wanne-Eickel im Ruhrgebiet und entdeckte schon in frühen Jugendjahren seine Passion für das Figurieren von Rollen. Diesen Wunsch lehnte seine Mutter allerdings ab, war es doch gerade sein Vater, der dem Berufsbild der Schauspielerei nachging und Posthoffs Mutter nach der Geburt verließ. Vielleicht als Trotzreaktion sah sich Andreas Posthoff dennoch zu dieser Aufgabe prädestiniert und beschloss mit 17 Jahren, zumindest in beruflicher Hinsicht, auf den Spuren seines Vaters zu wandeln. Sein anschließendes Studium absolvierte er in Stuttgart und ist seitdem überwiegend im Württembergischen Raum tätig. So erlebte er in seiner nunmehr 40-jährigen Laufbahn sämtliche Höhen und Tiefen, die mit dem darstellenden Gewerbe verbunden sind.

Heute lebt er zusammen mit seinem Sohn in der Kätchenstadt Heilbronn und ist derzeit Ensemblemitglied auf dem Heilbronner Theaterschiff. Ferner unterrichtet er zudem an lokalen Bildungseinrichtungen und vermittelt schauspielerische Grundlagen.

Jeder Beruf ist eine Berufung

Andreas, du bist nun schon lange im Business – Beruf oder Berufung?

Ich glaube jeder Beruf ist eine Berufung. Ich habe Schreiner und Metaller kennengelernt, egal aus welchem Bereich, die haben ihren Beruf mit einer so großen Leidenschaft ausgeübt, als sie beispielsweise vor ihren Maschinen standen oder sich mit hunderten Holzsorten befassten. Meiner Meinung nach, sollte sich jeder der einen Beruf nachgeht, auch zu diesem berufen fühlen, sonst macht das alles keinen Sinn.

Welche Rollen waren für dich die Ergreifendsten in deiner Karriere?

Ja, da gibt es verschiedene Dinge. Wir haben einmal einen Rückblick auf das 20. Jahrhundert gemacht und da habe ich den Goebbels gesprochen. »Biedermann und die Brandstifter« war für mich eine ganz, ganz wunderbare Geschichte. Wobei ich es natürlich auch sehr gerne mag, wenn die Leute über mich lachen (schmunzelt). Sie müssen nicht immer im Herzen zutiefst gerührt sein, ich schätze die befreiende Geste des Lachens im Publikum ebenso wie die Ergriffenheit.

Wie bereitest du dich auf deine Rollen vor?

Als aller erstes sehe ich – sehen und hören. Wir sitzen gerade in einem Café und nun beobachte ich die Leute, wie sie miteinander kommunizieren und interagieren. Das ist dann für mich immer ein Beispiel, an das ich mich zu erinnern versuche, wenn ich eine Rolle bekomme. Das Gesehene versuche ich im Sprechen und Spielen unterzubekommen. Es heißt ja auch Schauspiel – Schauen und Spielen. Die Leute sind so grandios verschieden, ihre Mimik, ihre Gestik, ihre Bewegungen und die Töne, die sich von sich geben, werden durch Überhöhung auf der Bühne zur Kunstform. Das Tolle am Schauspielen ist ja, dass man nicht nur die Leute zum Vorbild nehmen kann, sondern man kann sich auch mit sämtlichen Thematiken beschäftigen: Kostümkunde, Kulturgeschichte, Furz und Feuerstein (lacht).

Gibt es Rollen die du noch unbedingt verkörpern möchtest?

Ach ja natürlich, also klar den Faust in »Faust«, den täte ich mal ganz gerne spielen, aber meinetwegen auch »Warten auf Godot« und solche Sachen, die interessieren mich brennend und wahnsinnig.

Emotionen auf der Bühne – reine Schimäre oder scheinbar reales Empfinden?

Deswegen nochmal, es heißt ja Schauspieler und nicht Schauseiner. Schau mal, das Leben ist ja auch so bunt. Manchmal ist es tragisch, manchmal ist es heiter. Abends aber da sitzen Leute, die haben einen Haufen Geld bezahlt, haben sich schick gemacht und haben sich verabredet. Die Kunst liegt in der Wiederholung, das heißt, in diesem Augenblick ist der Körper ein Instrument. Worauf es ankommt ist, dass ich unten, in den Zuschauerrängen, Emotionen wecken kann. Was ich oben, auf der Bühne, fühle interessiert keinen. Egal ob ich mich zuvor verliebt habe oder ein Angehöriger verstorben ist. Da sitzen 800 Leute, die interessiert mein innerer Gefühlzustand nicht, die wollen die Verkörperung meiner Rolle sehen und nichts Anderes. Das ist wie beim Musiker der eine Partitur bedient – mit etwas Glück kommt dabei Kunst heraus.

Vor dem Auftritt eine Currywurst

Hast du etwaige Bühnenrituale oder sich stetig wiederholende Abläufe vor einer Vorstellung?

Ich habe es vorher ganz gerne ruhig und gehe so anderthalb Stunden vor der Vorstellung auf die Bühne – schaue und schnuppere. Dann muss ich noch meine Requisiten richten, falls das nicht schon erledigt ist, Text anschauen – normal – und laufe mich ein. Alles im Allem habe ich keine großen Rituale. Zurzeit gönne ich mir vorher noch ganz gerne eine Currywurst (lacht).

Was ist deine Lieblingsanekdote aus deiner Laufbahn, hast du da eine?

Ja, ich habe mal den Peppone, bei »Don Camillo und Peppone« gespielt und beim Lernen des Textes habe ich mir schon gedacht, da musst du aufpassen. Da sagt der Peppone: »Der Pfaffe braucht eine Abreibung«. Was sagt der Posthoff: »Der Pfaffe braucht eine Abtreibung«. Dann dreht sich der Kollege ganz verlegen herum und du merkst in Sekundenbruchteilen: »Oh man was hast du da herausgehauen«… Ich weiß nicht wie viele Leute das gemerkt haben, doch das war einer der Momente, an denen ich mir überlegte, wie wäre es mit einer einsamen Insel und zwar sofort. Aber ich glaube, das kennt jeder Kollege, wenn man sich mal so richtig verhakt. Natürlich kann das passieren, sollte es jedoch nicht, aber später lacht man darüber, obgleich man im Moment am Liebsten im Boden versinken würde. Fehler sind eben menschlich.

Jetzt, da wir bei der Menschlichkeit gelandet sind, ist es interessant zu wissen, wie es mit diesem Werteideal am Theater aussieht?

Wenn wir doch auf der Bühne die Menschlichkeit in all ihrer Vielfalt verkörpern, dann sollten wir diese doch auch im privaten Leben und Berufsalltag beherzigen. Natürlich ist das Theater eine Kunstform mit sehr vielen schrägen und ausgeprägten Charakteren, von daher ist schon einmal eine große Rücksichtnahme erforderlich. Jeder sollte so sein wie er ist, ohne Schwierigkeiten zu bekommen, es sei denn er ermordet jemanden oder wird ansonsten irgendwie handgreiflich (augenzwinkernd). Ein Haus muss meiner Ansicht nach von der Putzfrau bis zum Intendanten auf der menschlichen Ebene funktionieren. Ich denke ihr wisst was ich meine.

Dies entspricht aber sicherlich nicht immer der Realität!?

Korrekt. Es gibt am Theater etliche unauserkorene und auserkorene Eitelkeiten. Manchmal erfordert es schon Langmut und ein großes Maß an Menschlichkeit, um diese Schrullen zu ertragen, wobei mir das meistens gelingt. Ab und an ist es aber auch erforderlich, dass man laut wird und die Hutschen hochziehen muss, aber das ist zum Glück die Ausnahme.

Du bist derzeit Ensemblemitglied auf dem Heilbronner Theaterschiff, was ist die Besonderheit an dieser Spielstätte?

Die Menschlichkeit! (lacht). Es sind aber natürlich auch wunderbare Räumlichkeiten. Die Arbeit macht enorm viel Spaß, wir verstehen uns prima und ich freue mich auf jede Vorstellung. Mit Heinz Kipfer haben wir einen großartigen Intendanten, der seit 20 Jahren dies alles pflegt und erhält, da kann ich nur Chapeau sagen und meinen Hut vor ihm ziehen.

Theater ist immer politisch

Was hältst du von der Politisierung des Theaters?

Zurecht, Theater ist immer politisch.

Sollte dies auch offen gezeigt werden oder metaphorisch verpackt werden?

Solange die Metaphorik erkannt wird ist dies gut. Da ich doch den Eindruck habe, dass dies zu selten der Fall ist, muss man manche Inhalte sehr plakativ äußern um sie klarzustellen. Zu Zeiten des Eisernen Vorhangs verstanden es die Leute, die im Osten lebten, noch besser Botschaften zwischen den Zeilen zu lesen und zu hören – in Westeuropa war dies immer ein Defizit. Ich wünsche mir wieder mehr Verständnis für die Metaphorik, damit kann man mehr künstlerisch arbeiten und hat mehr Raum für die eigene Kreativität. Gerade die Filme »Danton« und »Nostalghia« stammen aus ebenjener Zeit und wurden trotzdem verstanden, obwohl sie nicht mit der Moralkeule drohen. Auch die Komödie ist politisch, die Leute wollen lachen und sich vom Alltag befreien.

Was ist dein Ausgleich zum Theater?

Mal einen Kaffee trinken, auf dem Sofa liegen, dann fotografiere ich ganz gerne, male, lese und schaue Filme, wenn es die Zeit hergibt. Außerdem habe ich noch meinen Sohn, der »bevatert« werden möchte. Zur Lebensentspannung koche ich, kaufe auf dem Markt ein und halte dort mein Schwätzchen. Was ich nicht so gerne mag sind Steuererklärungen (lacht).

Du arbeitest in vielerlei Hinsicht mit Schülern, was ist das Besondere an dieser Tätigkeit? Gibt es auch Schwierigkeiten Schülern Theater zu vermitteln?

In der Tat hat sich in den letzten 20 Jahren sehr viel verändert. Vor 15 Jahren hatten die Kinder noch mehr Eifer, Kreativität und haben für das gebrannt, was sie faszinierte. Heute erwarten sie bedauerlicherweise oft Befehle, man muss ihnen alles vorkauen – ich vermisse die Eigeninitiative. Die Ursache hierfür liegt auch an unserem Schulwesen – der Raum für eine Selbstentfaltung fehlt. Wir haben mittlerweile wieder Verhältnisse wie zu Zeiten des Kaisers Wilhelm I. Das Denken wird nicht geschult, worauf es ankommt ist letztendlich die gute Note im Endjahreszeugnis. Heutzutage sind wenige bereit zu kämpfen, Kopf und Kragen zu riskieren und sich für eine Sache begeistern zu lassen, auch wenn man mal die eine oder andere Grenzüberschreitung riskieren muss.

Mich freut vor allem, wenn sich der eine oder andere im Unterricht verwandelt und seine ungeahnten Fähigkeiten erkennt. Es sind zudem absolute Glücksmomente, wenn man dann mal einen ehemaligen Schüler als Kollegen wiedertrifft. Insgesamt ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aber sehr erfüllend.

Du engagierst dich auch ansonsten im sozialen Bereich. Was sind deine aktuellen Projekte?

Ich bin in einer Pfadfindergilde, obwohl ich eigentlich gar keiner bin. Wir unterstützen Hilfsprojekte in Burkina Faso, beispielsweise eine Krankenstation. Zudem finanziert unsere Organisation den Bau eines zweiten Regenauffangbeckens mit angegliederten Zellen, die dem Anbau von Obst und Gemüse dienen. Dies hilft insbesondere den Frauen und stärkt deren Eigenständigkeit. Weiterhin ermöglichen wir den Kindern den Schulbesuch. Das Besondere ist, dass das Projekt nur in den Bezirken unterstützt wird, in denen Christen und Muslime friedlich zusammenleben – das gibt es auch und es funktioniert blendend.

Gehst du auch privat ins Theater, wenn es die Zeit hergibt?

Relativ selten und nur auf ausdrückliche Empfehlung oder wenn ein befreundeter Kollege auf der Bühne steht.

Das Interview geht noch weiter. Hier bei Theaternetz weiterlesen

Interview und Fotos; Philipp Wolpert und Tobias Frühauf

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Tanz und Theater Theater

Mordende Blumenkinder im Festspielhaus Hellerau – „The Manson Family” von John Moran

Ja, jeder kennt sie: Die Faszination des Grauens. Vielleicht ist deswegen die Besucherschlange an der Abendkasse so lang? Einst ein erfolgloser, US-amerikanischer Musiker, hat Charles Manson letztendlich Kultstatus erlangt. Künstler tragen seinen Namen und singen über ihn. Filme stellen das Leben und die mörderischen Taten von Manson und seiner (hauptsächlich weiblichen) Anhänger dar. Ebenso die Oper „The Manson Family”, deren Neufassung im Festspielhaus Hellerau gezeigt wurde.

Die Beatles als apokalyptische Reiter

Im August 1969 tötete die Manson Family sieben Menschen der High Society auf brutale Weise, unter anderem Roman Polanskis Frau Sharon Tate. Anlass dazu gab Mansons eigensinnige, auf Rassismus beruhende Interpretation des Beatles-Songs „Helter Skelter” – zu Deutsch Holterdipolter. Seine apokalyptische Vorstellung: Der Beginn eines Rassenkrieges zwischen Afroamerikanern und Weißen im Jahr 1969 und der Genozid an Schwarzen sowie Weißen der reichen Oberschicht. Unfreiwillig symbolisierten die Beatles so die apokalyptischen Reiter der rassistischen Mordserie der Sekte.

Massenmedien treffen auf Massenmorde

Noch nicht mal am Platz angekommen, sticht dieser riesige, überdimensionale Röhrenfernseher ins Auge. Treppen führen links und rechts an ihm empor, so dass auf dem Apparat eine weitere Bühne entsteht. Direkt hinter dieser Bühne hängt eine weiße Leinwand. Ein Stuhl, wie er auch in einem Gerichtssaal stehen könnte, befindet sich rechts vor dem Fernsehgerät. Massenmedien treffen auf Massenmorde.

 

Im Switchmodus durch den Theaterabend

Die Oper beginnt und nimmt die Zuschauer mit auf eine kurzweilige Reise durch Fragmente der Populärkultur der 1960er Jahre. Ein Theaterbesuch wie ein Fernsehabend im Switchmodus. Über die Leinwand sind wir auf einem Highway unterwegs, auf der TV-Bühne spielt Manson-Mitglied Leslie Van Houten auf ihrer Violine einstimmig zum Hintergrundsound, Sirenen flackern über die Leinwand und durch die Zuschauerränge, im TV wird durch das Programm gezappt – von einer Rede Martin Luther Kings zu einer Musikshow zu Knetfiguren, zurück zu Martin Luther King, weiter zu einem Western, dann ein bisschen Zeichentrick, zurück zur Musikshow, wieder zu Martin Luther King. Staatsanwalt Vincent Bugliosi führt in direkter Publikumsansprache beinahe ausnahmslos auf Englisch (so wie der Prozess auch im Original war) durch’s Programm – Moment, natürlich durch die Anklage. „ I just opened the cases and look what I release.“ Es folgt die Veröffentlichung begangener Morde der Manson Family und deren Hintergründe (Akt 1), Einblick in die labilen Persönlichkeiten der Mitglieder Susan Atkins, Lynette Alice Fromme sowie Charles Manson (Akt 2) und Ausschnitte aus den abschließenden Gerichtsverhandlungen (Akt 3).

Psychedelischer Wahnwitz

In den Kostümen und der schauspielerischen Leistung spiegelt sich der Wahnwitz wieder. Ein Kontrast zwischen tanzenden Menschen in Hippie-Klamotten und rasenden Gestalten in Gefängniskluft. Die fanatischen Sektenmitglieder werden dargestellt durch John Moran (Charles Manson), der das Stück zugleich inszeniert hat, Inez Schaefer (Lynette Alice Fromme), Constanze Friedel (Leslie Van Houten), Jule Oeft (Susan Atkins). Tobias Herzz Hallbauer spielt den Anwalt Vincent Bugliosi. Zusammen verkörpern sie mit Bass, Leadgitarre, Zweitgitarre sowie imaginärem Schlagzeug zudem die Beatles.
Auch wenn alle Schauspieler mit ihren Darbietungen überzeugen können, ist in diesem Zusammenhang insbesondere Jule Oeft hervorzuheben. Ihre Darstellung im blutigen Kleid lässt keinen Zweifel an einer psychischen Störung von Susan Atkins. Durch die immergleiche Wiederholung von einzelnen Szenen intensiviert sich dieser Eindruck. Es ist wie das Zurückspulen und Abspielen einer Filmszene, an der sich der sensationsgierige Zuschauer nicht sattsehen kann. Die Schauspieler verschmelzen mit ihren Rollen. Sie passen ihre Bewegungen und Kostüme sogar an die Originale der Manson Family an, welche zeitgleich in den Dokumentationsausschnitten zu sehen sind. Die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion verwischt. Schade ist, dass Leslie Van Houten-Darstellerin Constanze Friedel etwas untergeht, da sie nur am Rande erscheint. Welche Rolle spielt sie? Manson Family-Mitglied Leslie oder Livemusikerin Constanze?

 

Treibende Stimmung

Passend zu diesem ganzen Wahnsinn, gibt die Kombination aus Licht, Musik und Sound ein gutes Zusammenspiel ab. Die Live-Geigenmusik ist gut auf die Hintergrundmusik abgestimmt. Die Bässe sind voll und einnehmend, dazu Stroboskoplicht und klarer, engelsgleicher Gesang. Irrsinn trifft auf Schönheit. Eine unheimliche, agressive und treibende Stimmung entsteht. Auf der Leinwand bunte Muster und Farben – ein Zustand der Trance und des Drogenrausches.

Popkultur der 1960er

Geschickt wurden Elemente der Popkultur der 1960er Jahre sowohl intertextuell als auch transmedial in die Inszenierung aufgenommen. Zum einen wurden musikalische Referenzen zu den Beatles integriert, was sich inhaltlich zweifellos auf Mansons Verehrung der Band bezieht, jedoch ebenfalls als transmediale Verknüpfung zu neuartigen Phänomenen wie der Beatlemania, Boygroups, Massenkonzerten, Liveübertragungen, Starrummel, allgemeiner Sensationslust, aber auch der damals gegenwärtigen rebellischen Jugendkultur verstanden werden kann. Andere Medienkanäle der Zeit (TV, Radio, Zeitung) sind somit indirekt präsent.
Weitaus offensichtlichere Transmedialität spiegelt sich im Originalfilmmaterial wider, das über den Röhrenfernseher flackert. Löste das Fernsehen in den 1960ern, als TV-Geräte für jedermann erschwinglich wurden, doch das Radio als führendes Unterhaltungsmedium ab. Auch wenn Gleichzeitigkeit im Zeitalter des Internets eine andere Bedeutung zuzuordnen ist, so wurden soziokulturelle Ereignisse durch das Fernsehen erstmals bildlich erlebbar – eine neue Form des Dabeiseins, Miterlebens, Mitfieberns war geboren.
Zum anderen wurde eher unterschwellig der Bezug zur High Society hergestellt, gegenüber welcher Manson Wut empfand. Ausschnitte aus „The Jet Set“, einer TV-Doku über den Alltag an Bord eines Jets sowie Jule Oeft als Sicherheitsanweisungen gebende Stewardess sollen den glamourösen Lifestyle der Schönen und Reichen präsentieren. Flugreisen galten in den 1960ern als Inbegriff für kosmopolite Freiheit sowie Unbeschwertheit – ein Konsumgut, welches insbesondere von Starlets sowie Industrieerben genutzt wurde, welche wiederum die Massenmedien als Bühne ihrer Selbstinszenierung in Beschlag nahmen.

Fazit

Insgesamt kann „The Manson Family” als anspruchsvoll aufgebaute Darbietung mit einem hohen Maß an kreativer Experimentierfreude bezeichnet werden. Hintergrundinformationen zum Manson-Prozess sind auf jeden Fall hilfreich, wenn man mit der Thematik nicht vertraut ist.
Die Macht der Medien, reale und fiktive Elemente miteinander zu kreuzen, und die Sensationsgier der Zuschauer nach Extremen zu stillen, wird vielschichtig inszeniert. Es lohnt sich auf jeden Fall, die Aufführung nicht einfach so zur Seite zu legen, sondern diese Trennlinien zwischen Fakt und Fiktion rückwirkend zu hinterfragen.
So fällt auch die Verbeugung der Schauspieler ungewöhnlich verhalten aus. Stecken sie noch in ihren Rollen, sind sie sich der Schwelle bewusst, haben sie gerade nur gespielt oder ist Moran der neue Manson, der Züchter einer neuen Sekte? Einer Theatersekte, die gerade noch auf der Hellerauer Bühne probt und im nächsten Augenblick schon mitten in unserem Alltag agiert?

 

Text von Birte Gemperlein und Gina Kauffeldt
Fotos von André Wirsing

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Tanz und Theater

Tanzworkshop mit Joel & Ulysse von der Dresden Frankfurt Dance Company

Bon Iver, David Bowie, James Blake und Iggy Pop laufen im großen Saal des Festspielhauses Hellerau. Wir öffnen die Augen und lassen das Licht in uns, bewegen uns im Liegen in den Boden hinein und bewegen uns vor allem nach unseren Gefühlen, manchmal bewegt der Körper aber auch uns – wie das geht, haben wir von zwei Tänzern gelernt.

Die Workshopleiter

Joel und Ulysse geben jedem Teilnehmer des Tanzworkshops am 03. Dezember die Hand und stellen sich vor. Sie werden erst am Ende sagen, dass dies das erste Mal sei dass sie so etwas leiten, aufgefallen jedenfalls ist es keinem. Es sind nur 10 Teilnehmer, zwei Kinder unter ihnen, und die Hälfte ohne jegliche Tanzerfahrung. Englisch? Ulysse kommt aus Frankreich, wo er an der Ballettschule der Opéra national de Paris eine klassische Ausbildung erhielt, bis er 2014 nach Deutschland kam, um seine Ausbildung im zeitgenössischen Tanz zu fortzuführen. Joel, der wohl auffallendste unter den sehr charakteristischen Tänzern der Dresden Frankfurt Dance Company, kommt aus Australien, er sagt auf Deutsch, er könne nur ein bisschen Deutsch. Wir lachen zögerlich. Wie soll man sich Tänzern gegenüber verhalten?

Seinen Körper spüren

Wir gingen also auf die Tanzfläche, ein Kreis wurde gebildet. Hinlegen. Atmen. Spürt euren Körper, wie er reagiert. „Now move your legs.“ Schritt für Schritt bewegten wir jeden Teil unseres Körpers, „And now 10 seconds losing controll, okay? Just as much as you can, 10, 9, 8, …“ , was nach Spaß klingt, war ebenso Entspannung. Nach dem Liegen gingen wir in die „Doggy Position“, bewegten unsere Schultern, brachen zusammen, wiegten nach Hinten, Hüfte. Wir lösten unsere Hände vom Boden, und so kamen wir letztendlich nach und nach zum stehen- nach einem langen Prozess der eigenen Körperwahrnehmung. Man könnte es mit der Evolution vergleichen; wir fühlten uns gut.

 

Nachdem wir uns allein bewegt hatten, bestand die nächste Übung darin, die Tanzbewegungen eines Tanzpartners nachzuahmen- dabei übernahm nicht einer die Führung, sondern es entstand wie selbstverständlich eine gemeinsam ausgeführte Bewegungsabfolge, ohne sich abzusprechen, wann was passiert. Zugegeben, anfangs war viel Lachen dabei, immerhin öffnete man sich nun mit einer Person. Joel und Ulysse gaben dann Anweisung, sich nicht mehr nachzuahmen sondern sich nur noch voneinander inspirieren zu lassen. Mittlerweile tanzten wir alle verteilt auf der ganzen Bühnenfläche, als Joel sagt, wir sollen nun irgendjemand im Raum nachahmen. Und das taten wir. Stellenweise machten wir alle dieselbe Bewegung, wenn einer jemanden nachmachte, der ebenfalls schon jemanden nachahmte… es war ein Spiel, welches jedoch auch eine Ästhetik beinhaltete.

Zappeln, Klopfen und improvisieren

Danach fanden wir uns wieder in einem Kreis zusammen, lockerten noch einmal unseren Körper, bevor wir mit einer weiteren Übung zu zweit jeweils tanzen- oder zappelten: einer „klopfte“ sanft über den Körper des anderen, der sich nach Schnelligkeit und Heftigkeit des Klopfens bewegte. Eine Übung, die besonders den zwei Kindern gefallen hat.  Bevor wir den Höhepunkt des Workshops erreichten, sollte noch einmal jeder sagen, was ihm besonders gefallen hatte und was nicht. All die verschiedenen Bewegungen, die wir die letzte Stunde aktiviert hatten, sollten wir nun in einer zehn-minütigen Improvisationsperformance zeigen und kombinieren. Wir verteilten uns auf der Bühne, manche starteten liegend, manche stehend. Man versuchte, seinen Körper die Musik malen zu lassen, aber auch irgendwie in Zusammenspiel mit den anderen. Wie wir gelernt haben, ließen wir uns von unseren „Kollegen“ inspirieren, manchmal ahmten wir auch nach. Wie das wohl für Außenstehende gewirkt haben soll? Wie ein großes Durcheinander oder doch gewollt, künstlerisch, modern und schön? Während wir tanzten, stellte sich wohl keiner diese Frage, dafür haben uns Ulysse und Joel vorher schon in ein befreites Selbstbewusstsein geführt.

Eine kurze Abschlussrunde, alle sagen, dass es toll war. Befreiend, dass sie etwas gelernt haben. Sei es nun die Selbstwahrnehmung oder die Fähigkeit, mit anderen zu tanzen, nicht nur für sich allein. Jemand sagt, es wäre ein guter Yoga Ersatz, zweimal die Woche diesen Workshop und man sei ausgeglichen.  Die beiden fühlen sich geschmeichelt, sagen, sie haben auch etwas von uns gelernt und sich inspirieren lassen. Dass sie an einem Workshop Konzept arbeiten wollen.

Ein paar Tänzer der Dresden Frankfurt Dance Company kommen auf die Bühne und wärmen sich für das Training auf, während sich ein paar der Workshopteilnehmer noch Musiktipps von Ulysse und Joel geben lassen. Wie man sich Tänzern gegenüber verhalten soll? Die beiden haben sich das wohl auch gefragt: wie sollen wir uns nicht-Tänzern gegenüber verhalten? Während dieses Workshops sind wir alle gleich geworden, egal welchen Beruf wir hatten- und am Ende sind wir doch alle nur Menschen, die eines wollen: glücklich sein!

Merci beaucoup pour ce workshop!

Text von Bianca Kloß
Fotos von Sabrina Spurzem

Titelfoto: dresdenfrankfurtdancecompany.com

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Theater

Sherlock Holmes und die Schnecken von Eastwick im Boulevardtheater

Meike und Sabrina waren im Boulevardtheater Dresden bei Sherlock Holmes und die Schnecken von Eastwick. Ihre Meinung zu Spannung, Bühnenbild und Musikeinsatz werden im Video diskutiert.

Produktion: Sabrina Spurzem und Meike Krauß

Szenen Foto: Robert Jentzsch/ Boulevardtheater

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Tanz und Theater

FRAGILAND – Tanzperformance in Hellerau beim Festival „Shifting Realities“

Interkulturelle Tanzperformance von Jacobs, Koné, Manjate, Till – 2017

Vier ineinander verschlungene Tänzer stehen im Spot. Leicht wiegend, mit den Gesichtern einander zugewandt. Zwei Frauen. Zwei Männer. Zwei Weiße. Zwei Schwarze. Leicht tänzelnd. Vertieft. Intim. Im Einklang. Doch es dauert nicht lang und aus dieser scheinbar harmonischen Nähe und Verbundenheit wird unausgewogene Distanz. Als würde das Quartett noch versuchen das Ungleichgewicht in seinen Ursprungszustand wieder zurückzuholen, beginnen die Tänzer zu klammern, zu zerren. Es wird unruhig auf der Bühne. Ein Knäul. Ein Handgemenge. Bis sich eine Tänzerin komplett von der Gruppe lösen kann. Sie greift zum Mikrofon und richtet sich direkt an das Publikum. Im Reporterstil will sie die unruhige Situation entschlüsseln. „Here we can see three different characters. One of them feels uncomfortable.“ Es ist der weiße Mann. Was ist los mit ihm? Sie zeigt Körpereinsatz, möchte Antworten auf ihre Fragen. „He’s stressed“, erklärt die schwarze Tänzerin hektisch. Weiteres Zerren und Stoßen. Die Reporterin stürzt. Sie interpretiert das Verhalten des weißen Mannes anders: „He’s afraid.“ Willkommen in Fragiland, einer afrikanisch-europäischen Tanzperformance, die im Rahmen des zweijährigen tänzerischen Austauschprojekts „Shifting Realities“ produziert wurde.

Partnerprojekt zwischen Dresden, Düsseldorf und Toubab Dialaw (Senegal)

Das Projekt, das in Kooperation zwischen HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden, dem tanzhaus nrw Düsseldorf und dem senegalesischen Tanzzentrum  École des Sables Toubab Dialaw entstanden ist, wird von der Bundeskulturstiftung im Rahmen des Turn-Programms gefördert. „Shifting Realities“ ermöglicht künstlerischen Austausch zwischen europäischen und afrikanischen Tänzern sowie Choreografen. Die jeweils andere Tanzkultur mit ihren individuellen Produktionskontexten und Ästhetiken wird so hautnah erlebt, um abseits von einseitigen Realitätskonstrukten verbindende, interkulturelle, zeitgenössische Tanzperformances zu realisieren.

Zerreißprobe des interkulturellen Dialogs

Interkultureller Austausch findet oft einseitig statt. Das wird auch den Zuschauern von Fragiland vermittelt. „We are facing a group of almost white people to enter into a dialogue about race“, so die weiße Reporterin. Ein interaktiver, physischer Dialog ist somit notwendig. Stress kann zu einem intensiven Dialog gehören, Angst und insbesondere Zerbrechlichkeit, wie der Titel Fragiland bereits suggeriert.
Jason Jacobs aus den USA, Souleymane Ladji Koné aus Burkina Faso, Kátia Manjate aus Mosambik und Anna Till aus Deutschland lassen Gefühle in all ihren Facetten zu, um in Fragiland einander zu verstehen, sich selbst zu erklären, einander misszuverstehen, voneinander zu lernen und vor allem gemeinsam, bis zum Äußersten zu gehen und zusammen von der Zerreißprobe des interkulturellen Dialogs zu erzählen.

 

Mal gelingt eine Annäherung über Dominanz, in dem die Weißen den Schwarzen diktieren, was zu tun ist. Mal können die Schwarzen die Weißen zum Nachtanzen anleiten. Harmonie trifft auf Dominanz. Stärke auf Zerbrechlichkeit. Energiegeladene Freude auf ernsthaftige Vergangenheitsbewältigung. Gesprochene Sprache auf feinfühlige Körperlichkeit.

Echos, Vibrationen und Verzerrung

Das Sounddesign ist an diese tänzerischen Wechsel und Bewegungsstile angepasst. Mal wird mit vollem körperlichen Bodenkontakt getanz, mal leicht schwebend durch die Luft. Echos und Stimmenverzerrung, Klänge, Vibrationen, Bässe. Harmonisch pulsierende Melodien gehen über in hektisch zuckende. Mal unterstützt die Musik die Bewegungen. Mal distanziert sie sich vom Bühnengeschehen, was zu einem faszinierenden Kontrast führt.

Gemeinsam zu einem Miteinander

Schließlich präsentiert die Performance dem Zuschauer die Verschmelzung der verschiedenen Tanzformen. Es wird nicht vorgetanzt, nachgetanzt oder weggetanzt, es wird miteinander auf einer Augenhöhe getanzt. Auf dem Weg zu dieser Verschmelzung haben die Tänzer angefangen sich zu entkleiden.

 

Während die schwarze Tänzerin ihr Kleid ausgezogen hat, tragen die restlichen drei TänzerInnen ihre Hosen wie Fußfesseln um ihre Knöchel. Doch die Fesseln der postkolonialen Zwänge und Clichés hindern sie nicht daran, gemeinsam zu tanzen und zu verstehen.

„I am over.“

Das Quartett tanzt ausgelassen miteinander. Zu viert und zu zweit im Wechsel. Dann greift die schwarze Tänzerin zu einem Stiefel, platziert ihn auf ihrem Kopf und beginnt zu tanzen und zu erzählen. Die ganze Zeit balanciert sie den Stiefel, der als Sinnbild für Unterdrückung und Last steht. Einige Szenen zuvor hat sie auf die Frage „Where are you from?“ bereits mit „War.“ geantwortet. Nun greift sie die Thematik erneut auf: „I am over because I lost my feet. I lost my legs during the war. […] I am over, because I lost the war. I lost my country. I lost my president. I lost my identity during the war. I lost my father. I lost my friends during the war. […] My country lost my feet, lost my dancemovement. I am lost. My dress lost my dance. My dance lost my identity. I am over.“ So wechselt die Performance wieder einmal aus ihrer soeben noch dargebotenen kollaborativen Unbeschwertheit in die individuelle Zerbrechlichkeit. Die Suche nach Identität, ein Gefühl der Entwurzelung durch koloniale sowie postkoloniale  Machtausübungen. Tanz versteht sich so auch als Abschütteln von Unterdrückung, Fremdbestimmung, Vormundschaft und  Ausdruck von Freiheit und Identität.

Zurück zum zerrenden, klammernden, stoßenden Knäul

 

 

Wurde die Tänzerin gerade noch harmonisch von ihren Mittänzern begleitet, so finden die drei nach ihrer Darbietung zum zerrenden, klammernden, stoßenden Knäul der Eingangsszene zurück. Die schwarze Tänzerin ergreift nun das Mikro: „Here we can see three different characters. One of them feels uncomfortable.“ Diesmal ist es der schwarze Tänzer. Sie möchte herausbekommen, was mit ihm los ist. Diesmal antwortet niemand. Dann wird es immer turbulenter. Arme greifen nacheinander, die Reporterin wird in das Gemenge hineingezogen. Arme schlagen um sich. Dann ein Schrei. Ein Echo. Die Scheinwerfer gehen aus. Ende. Die Vorführung ist zu Ende. Doch der kollaborative Austausch wird weitergehen. Die Tänzer haben sich wieder zusammengefunden, nachdem sie eine weitere Etappe des Austauschs durchgemacht haben. Der Dialog geht weiter. Im Dunkel der Scheinwerfer. Außerhalb des Tanzsaals. In den Köpfen der Zuschauer. Und hoffentlich im interkulturellen Dialog, auch abseits von Tanzpfaden.

Noch bis zum 11.02.2017 können Zuschauer in HELLERAU an verschiedensten tänzerischen Dialogen zwischen Afrika und Europa teilhaben. Mehr Infos unter

www.hellerau.org/shifting-realities

Text von: Birte Gemperlein
Fotos: © Stephan Floß – hellerau.org/presse/fotos/fragiland

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Derevo – Der letzte Clown auf Erden

Gespielt von Anton Adasinskiy, auf der Bühne allein in einer Mischung aus Performance, Tanz, Theater und Pantomime, doch unterstützt durch Makhina Dzhuraeva und Aleksei Popow als Außenwelt. Das Publikum Teil des Stücks, die Bühne groß und leer, wenig Requisite, der Fokus liegt auf dem Darsteller. Auf Sprache wird weitgehend verzichtet allenfalls mal eine Mischung aus Russisch und Kauderwelsch wenn er im Publikum nach Kippen fragt.

Die Sonne explodiert

Er beginnt als ein Ausgestoßener, ein Penner. In Lumpen gehüllt beobachtet er die Explosion der Sonne. Piu Piu. Um Ihre Teile wieder einzusammeln geht er den Weg durch die vierte unsichtbare Wand zwischen Publikum und Schauspieler. Die Bilder sind simpel, nicht zu verkopft, nicht zu viel Ablenkung, aber stark in der Aussage.  So muss er erst seine Lumpen ablegen, ehe er die Bühne betreten darf. Zurück bleibt unter dem Kostüm nur der Mensch, Anton, frierend. Die Wand wird durchschritten und das Stück nimmt seinen Lauf.

Traumhafte Komik zu kosmischen Klängen lässt mich zwischendrein ganz und gar die Umgebung verlieren und obgleich ich wahrnehme was auf der Bühne geschieht sind meine Gedanken tief in mir beschäftigt. Mit viel Witz, aber auch einer ordentlichen Portion Wahrheit schafft es der Mensch auf der Bühne uns daran zu erinnern, dass das Leben – so unergründlich seine Wege und Ziele auch sein mögen, alles ist was wir haben. Also mögen wir es kosten sei es nun süß oder sauer.

Nicht aufgeben!

Ein Clown sagt mehr als tausend Worte. Der letzte Clown auf Erden – einer von uns. Tief gefallen, herum geschubst, aber doch voll innerer Heiterkeit. Er gibt nicht auf und rät uns das Selbe zu tun.

Auf der Bühne sehen wir Tanz und Pantomime, er wechselt die Rollen und spielt mit sich selbst als zwei verschiedene Figuren, dann wieder rennt er weiter den ewigen Weg entlang an dessen Rand sich kleine und große Geschichten sammeln.

Jeder wird andere Aspekte des Lebens in diesem Stück für sich wieder finden,  anders interpretieren, anders fühlen. Doch die Stimmung, ja das, was dieses romantische Theater, wie Anton es auf der Pressekonferenz im Vorfeld selbst nennt, mit dem Betrachter macht, wird für alle sehr intensiv sein. Denn es geht um nichts Geringeres als das Leben, in all seinen Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Das endlose, freie Leben. Der Künstler Anton ist der Meinung, dass die Menschen ins Theater kommen, um Wunder zu sehen, die es in der Realität nicht gibt. Er erlebt auf der Bühne das, was so eigentlich nicht existiert. In der heutigen Welt in der Religionskonflike, Krieg und Blutvergießen noch viel furchtbarer geworden sind als etwa vor zehn Jahren fehlt es oft an einem – am Lachen. Der Clown mit der roten Nase ist also eine Philosophie: „Solange der Mensch lacht, macht er nichts schlechtes, solange er lacht, ist er gut.“

Die letzte Zigarette vor der Selbstentzündung auf der Flucht vor dem Teufel. Das Stück ein Auszug aus dem Leben in seiner rohen Wahrheit. Das Ende so offen wie die Zukunft. Erst nach Minuten stehen langsam Menschen auf. Das Publikum verlässt gefesselt den Saal.

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Puppentheater und Pantomime – „Harlekin” von Derevo

Der erste Gong ist bereits erklungen. Ein Puppenspieler läuft aufgeregt durch das Foyer und ruft die Besucher zusammen. Auf dem Weg in den Großen Saal komme ich an einem Flohmarkt vorbei. Hier werden Kostüme und Requisiten vergangener Vorstellungen vom Derevo Tanztheater Dresden-St. Petersburg angeboten. Die Stücke scheinen begehrt zu sein. Viel liegt nämlich nicht mehr auf den Tischen.

Ein Äffchen und ein Mini- Fahrrad

Eine große Platzauswahl habe ich nicht mehr, denn der Saal ist voll. Unter den Zuschauern
befinden sich viele Kinder, einige haben selbstgebastelte Masken auf. Kein Wunder, schließlich soll das Stück „Harlekin” von Derevo für Familien geeignet sein.harlekin

Künstlerischer Leiter ist Anton Adasinskiy. Selbiger ist auf der Bühne zu sehen, ebenso wie Elena Yarovaya und Makhina Dzhuraeva. Gemeinsam erzählen sie die Geschichte des unglücklich verliebten Harlekins, dessen Leben trotzdem weitergehen muss.

Zu Beginn der Vorstellung macht der Puppenspieler ein paar Späße mit dem Publikum und sorgt somit für eine lustige Theateratmosphäre. Das Bühnenbild besteht aus einem Vorhang und Flickenstoff. Dies, sowie Handpuppen, ein Äffchen auf einem Mini-Fahrrad, ein Stoffkrokodil oder eine Schaukel erinnern an Kasperletheater und Wanderzirkus.

Herzschmerz

 

Es wird mit Mandoline, Tamburin und Drehorgel gespielt. Doch diese verspielte Musik wechselt sich mit fast düsteren Klängen ab, gerade wenn der Harlekin von seinem Leid geplagt wird. Dieser Wechsel stellt den Kontrast zwischen der äußerlich unbeschwerten Theaterwelt und den wahren Gefühlen des Harlekins gut dar. In den kummervollen Momenten verändert sich auch die Lichtstimmung. Sie wirkt kalt und man kann den Herzschmerz des Harlekins spüren. (Im wahrsten Sinne des Wortes, denn er reißt es sich aus seiner Brust).harlekin2

„Was machen die da?”

Die Kostüme sind zwar einfach, aber puppenhaft und somit eine treffende Wahl. Karomuster, Mütze und Bommeln sind charakteristisch für die Kleidung alter Puppen und der Harlekinfigur. Die Schminke verschmiert, passend zum alten ärmlichen, aber bezaubernden Theater. Geradezu niedlich sind die marionettenhaften Bewegungen. Handlungen zwischen den Charakteren wirken besonders ausdrucksstark, da sie aus einer Mischung von Tanz und Pantomime dargestellt werden. Gerade das führt zu vielen Lachern und Schmunzeln im Publikum. Die fehlende Sprache sorgt aber auch manchmal für Unklarheiten. Vor allem jüngere Zuschauer fragen öfters: „Was machen die da?”. Trotzdem kann man der Gesamthandlung auch ohne Worte gut folgen.

 

In „Harlekin” geht es um eine Liebesgeschichte, die aber kein klassisches Happy End hat. Die Besucher schauen hinter die Fassade des immer lustigen Gauklers und Gauners, sowie hinter die Kulissen des immer fröhlichen Puppentheaters. Dies macht „Harlekin” zu etwas Besonderem. Groß und Klein haben trotzdem Spaß an den verspielten Requisiten, Gesten, Schattenspielen und der allgemein liebevollen Art des Stückes. Außerdem dürfte Eines die jungen Besucher besonders gefreut haben: Nach der Aufführung durften sie selbst mit den Requisiten spielen.

Text von Gina Kauffeldt
Foto: hellerau.org/pressefotos Copyright © E. YAROVAYA, Copyright © R. Ekimow

 

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Dresden Frankfurt Dance Company

Die Redaktion Kulturgeflüster ist auch aus dem Medienworkshop Film entstanden. Hier wurde ein kleiner Dokufilm über die Dresden Frankfurt Dance Company produziert.